80 Jahre danach

Die Religionen Müßen alle Tolleriret werden. Hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden“ (Friedrich II.,König von Preußen, am 22. Juni 1740). – Am 27. April 1940 ordnete Heinrich Himmler den Bau eines Konzentrationslagers in Auschwitz an.

Onkel Karl hieß eigentlich Karl Loewy, war Tscheche, Inhaber einer Druckerei in Ustí/Aussig im heutigen Tschechien und jüdischen Glaubens. Die Bezeichnung „Onkel“ verdankte er der Tatsache, dass er mit meiner katholischen Patentante Emmi liiert war. Dass ich ihn nicht Onkel Loewy nannte, bedeutete, dass er quasi zur Familie gehörte und de facto aus dieser Familie nicht wegzudenken war.

Meine Erinnerungen an ihn sind dennoch äußerst lückenhaft. Genau genommen beschränken sie sich auf eine einzige Begebenheit und zwar auf diese: Onkel Karl und Tante Emmi saßen in den Fauteuils im Erker des Wohnzimmers meiner Großmutter, ich (etwa vier, fünf Jahre alt) kasperte vor ihnen herum, vermutlich, um auf diese Weise an der Unterhaltung teilzunehmen. Da beugte sich Onkel Karl etwas vor und zwickte mich in den Popo, gewiss in neckender Absicht, was ich indes als respektlosen groben Zugriff auf meine Körperlichkeit empfand. Ich wandte mich also empört dem Täter zu und hackte ihn aus aller Kraft ins Knie. Onkel Karl wer konnte es ihm verdenken sprang verärgert auf und rieb sich das schmerzende Knie. Tante Emmi verteidigte mich.

Dieses Ereignis überdeckte alle anderen möglichen Begebenheiten, deren es viele gegeben haben muss, wie dem Tagebuch, das meine Mutter für mich führte, zu entnehmen ist. Jeweils in der Ferienzeit, die die Familie regelmäßig irgendwo im Gebirge verbrachte, heißt es: Onkel Karl kommt… Onkel Karl kommt. ..Onkel Karl kommt. Dies bis 1938, als bekanntlich das überwiegend deutschsprachige nördliche Randgebiet der ersten tschechischen Republik dem Deutschen Reich einverleibt wurde. Von da an kam kein Onkel Karl mehr. Wo war er geblieben? Ich fragte vermutlich nie nach ihm, vermisste ihn nach jener negativen Erfahrung wohl auch nicht.

Und die anderen Juden im Freundeskreis meiner Eltern? Was war mit meiner jüdischen Kinderärztin Dr. Katz geschehen?

Jene Tante Emmi und ihre Schwester, meine spätere Mutter, pflegten in ihrer Kindheit mit den jüdischen Nachbarskindern in den Sägespänhaufen der Schreinerei meines Urgroßvaters herumzutollen, und niemand interessierte sich dafür, ob die in die Kirche gingen oder in die Synagoge. Deren Familie war es gelungen, dem Terror der Nazi-Herrschaft zu entkommen und sich rechtzeitig nach Palästina abzusetzen. Viele Jahre später traf ich sie im Nachkriegsdeutschland, in das meine eigene Familie vertrieben worden war. Wir saßen um den Kaffeetisch wie gute alte Freunde, als sei nichts geschehen inzwischen, und sie erzählten von ihrem neuen Zuhause in Tel Aviv, von ihren Ferien am Toten Meer, in dem man dank seines hohen Salzgehalts nicht untergehen kann, aber zu einem Fall für den Notarzt wird, wenn man aus irgendeinem Grund zu viel Wasser geschluckt hat.

Zurück zu Onkel Karl. Bis heute ist es mir nicht gelungen, etwas über sein Ende zu erfahren. Vermutlich wurde er während der vierten Deportationswelle 1942 exekutiert. Wer weiß?

Die Suche nach Onkel Karl wird fortgesetzt.

Das wärs für heute.

Susanne Luecke

Ein Gedanke zu „80 Jahre danach

  1. Sehr interessant! Der 200-Jahre-Abstand zwischen dem Erlass von Friedrich dem Großen und dem jenes Nazi-Schergen (man mag die beiden Namen nicht zusammen in einen Satz schreiben; für Friedrich unzumutbar) war mir nicht bewusst.

Kommentare sind geschlossen.