Nach monatelanger Übung im home officing zeigen sich alle zufrieden. Es tut der Produktivität keineswegs Abbruch, vielleicht sogar im Gegenteil, da man sich ganz auf die Arbeit konzentrieren kann, durch keine mitteilungsbedürftigen Kollegen gestört wird und vor allem indem man zwangsläufig die mehr oder weniger zeitraubende Fahrt zu seinem gewohnten Arbeitsplatz, also nutzlos vertane Zeit, vermeidet.
Die Kehrseite: der Mangel an realer Gesellschaft verleitet nach und nach zu einem Mangel an Disziplin im Umgang mit sich selbst, zumindest was das Äußere anbelangt. In einem schleichenden Prozess verzichtet man zunächst aufs Duschen, begnügt sich mit Katzenwäsche und endet schließlich in einem übergeworfenen Bademantel, statt sich anzukleiden. Wozu, wenn sowieso niemand zu erwarten ist? Selbst wenn sich der Kühlschrank bedrohlich lehrt, kann der Lieferservice irgend eines Supermarkts Abhilfe schaffen, und der sieht über den Bademantel hinweg.
Das betrifft allerdings nur diejenigen im home office, die nicht durch familiäre Umstände am Arbeiten gehindert werden, die durch kein „Mama/Papa, mir ist so laaangweilig“, kein „kannst du mir mal bei Mathe helfen?“, kein „du könntest doch mal eben einkaufen gehen“ behelligt werden, die sich also ungehemmt der persönlichen Verwahrlosung hingeben können. (Achtung: daran denken, dass man bei einer Video-Konferenz nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen ist!)
Verwahrlosung ist per definitionem ein Zustand, in dem die Mindesterwartungen, die die Gesellschaft an eine Person stellt, nicht erfüllt sind. Streng genommen erfüllt einer im home office allerdings wesentlich mehr als die Mindesterwartungen, in seinem Fall die seines Arbeitsgebers, und der ist immerhin Teil der Gesellschaft. Also kein Grund zur Beunruhigung, man könne auf diesem Weg verwahrlosen. Vielleicht können wir uns auf den Begriff der Verwilderung einigen, also im übertragenen Sinn einen Rückfall in einen Zustand der Unkultiviertheit. Man sollte dabei jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass es einen erheblichen Arbeitsaufwand bedeutet, einen verwilderten Garten wieder in Form zu bringen.
Das wärs für heute.
Susanne Luecke
Gott sei Dank bin ich dazu viel zu eitel, also trotz der Situation kleide ich mich wie vorher und die Dusche und der Föhn sind wie gehabt in Verwendung.