Alle Beiträge von Susanne Lücke

Über Susanne Lücke

Geboren in Ustí nad Labem (Tschechien) am 15.11.1933. Hat in München, Toronto und Florenz gelebt, war als Mitarbeiterin des ZEITmagazin und als Buchautorin tätig. War mit dem Kunsthistoriker Hans-Karl Lücke (1927-2009) verheiratet. Lebt heute in Schondorf am Ammersee.

Antisemitismus im Aufwind?

Meine Patentante, wie meine Familie wohnhaft in Aussig (UstÍ nad Labem in der  tschechischen Republik) war mit  Karl Löwy liiert, einem Juden, der allerdings kein sog. „Glaubensjude“ war, sondern eher  ein Jude „durch Zufall“, wie sich einmal ein Jude, dessen Name mir leider entfallen ist,  selber bezeichnete. Anfang Juni 1939,  also kurz nach dem Anschluss des Sudetenlands an das „Reich“, hatten noch etwa 30 000 Juden an ihrem angestammten Ort gelebt, kurz darauf nur noch 2 373 . Die meisten  waren Hals über Kopf ins Innertschechische geflohen, wo sie  eine Flut von Antisemitismus auslösten.

Karl Löwy, den ich Onkel Karl nannte, weil er de facto Teil meiner „arischen“ Familie war, war Leiter der Bezirksstelle X der Kultusvereinigung, einer nachgeordneten Verwaltungsstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Mag sein, dass er sich in dieser Stellung sicher genug fühlte, um nicht zu emigrieren, mag auch sein, dass er die Ergebnisse der Wannseekonferenz nicht zur Kenntnis genommen hat, fest steht jedenfalls, dass er nach dem Anschluss des Sudetenlands an das „Reich“ plötzlich verschwunden war.

Doch eines Tages bekam meine Großmutter Nachricht von ihm. Er schlug ihr ein Treffen im Stadtpark vor, und sie ging darauf ein. Da sie sich  in der Öffentlichkeit  nicht in Gesellschaft eines Juden zeigen durfte, gingen sie hinter einander her, nur so weit von einander entfernt, dass sie sich noch verstehen konnten.  Was ihr Onkel Karl gesagt hat, habe ich nie erfahren.

Wie ist es möglich, dass etwa 80 Jahre nach dem Ende des „Dritten Reichs“ Juden sich wieder in Deutschland unsicher fühlen? Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher politischen Ecke der Wind weht.

 

Mehlwurm-Energieriegel gefällig?

Oder ein Insekten-Burger? Eine Madenschokolade?. Vielleicht Heuschrecken am Spieß?

Für etwa zwei Milliarden Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika gehören proteinreiche Insekten zur Alltagsspeise. Nicht so – mit wenigen Ausnahmen – für die Bewohner Europas. Doch das soll sich bald ändern. Im Frühjahr 2021 wurde von der EU der gelbe Mehlwurm als erstes Insekt  zum Verzehr freigegeben.

Dabei handelt es sich um die getrocknete Larve des gelben Mehlkäfers/Tenebrio molitor, eines Käfers aus der Familie der Schwarzkäfer. In den Handel kommt sie als Snack in ganzer Gestalt, alternativ gemahlen. Pulverisiert dürfen diese „Mehlwürmer“ bis zu 10% den Zutaten zu Nudeln, Keksen, Brot, Frühstücksflocken und Energieriegeln hinzugefügt werden. Seit Januar 2023 gelten auch Hausgrillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers als gesundheitlich unbedenklich. Allerdings warnen Verbraucherschützer vor gesundheitsschädlichen Organismen in insektenhaltigen Lebensmitteln und empfehlen, sie vor dem Verzehr unbedingt zu erhitzen. Auch allergische Reaktionen können auftreten, so das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Bislang sind gedruckte Warnhinweise auf den Verpackungen jedoch nicht verpflichtend. Mehlwürmer werden übrigens aus Holland und Belgien exportiert. Ein Kilogramm kostet lebend 13,99 Euro.

In unseren Breiten hält sich die Begeisterung für eine eiweißreiche Ernährung durch den Verzehr von Insekten in Grenzen. Doch wovor sich die einen ekeln, das ist für andere eine Delikatesse. Im Altenburger Land zum Beispiel, etwa 50 km südlich von Leipzig, schätzt man traditionell einen Milbenkäse, den Mürschwitzer Milbenkäse, und auf Sardinien gilt der Casu Marzu als Delikatesse: dieser Schafkäse wird teilweise entrindet und so der Luft ausgesetzt. Die Käsefliege Piophila casei legt in den so dargebotenen Käse ihre Eier, aus denen dann die Maden schlüpfen, die wiederum mit ihren Stoffwechselprodukten für eine cremige Konsistenz und ein besonders kräftiges Aroma sorgen.

Wer keinen Appetit auf Brot oder Nudeln mit Mehlwürmern hat, dem sei ein Blick in Susanne Lücke-David, Minimalistische Küche, neobooks 2021, empfohlen (zu bestellen z.B. bei bestellungen@lehmann.de).

Das wärs für heute.

Susanne Lücke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alles verstanden?

Brainstorming Sie Ihre Ideen! – Diese Aufforderung ist ein Zitat, mit dem ein international agierendes Unternehmen seine Kundschaft zu umgarnen sucht. Kunden werden zu Schöpfern von Ideen, die in Wahrheit auf dem Mist derer gewachsen sind, die diese Ideen zu Geld machen möchten.
Um sich unter Ideen etwas Konkretes vorzustellen, bedarf es gegebenenfalls Bezeichnungen, die eine Visualisierung ermöglichen. Dabei ist allerdings unsere Alltagsterminologie wenig hilfreich. Was ein Must Have oder ein Hoodie ist, kann man sich ja noch zusammenreimen, aber was ist denn mit einem It-Bag, mit Shapewear oder Feel-Good-Garant, einem Feel-Good-Probierset, mit Jeggins, Coole-Beach-Boys und -Girls gemeint? Was ist eine Pour-Over-Technologie? Und was sind eigentlich Shearling-Bags, Loungeware, Vintage Sneaker, Ragman, Cut Outs oder ein Sundowner? Wer unter letzterem eine zum Sonnenuntergang passende Kleidung versteht, liegt voll daneben, und dass mit einer Empfangsmatte ein ordinärer Fußabstreifer gemeint ist (nicht etwa eine Hängematte für erschöpfte Ankömmlinge), liegt auch nicht unbedingt auf der Hand.
Zum Glück gibt es das Internet, das auf fast alles, was man wissen will, eine Auskunft parat hat.

Das wär’s für heute.
Susanne Lücke

Das vermissen wir im Wahlkampf

Wenn Politiker dem Parlament oder dem Volk etwas mitteilen wollen, bedienen sie sich einer Sprache, die aus Wörtern besteht. Normalerweise transportieren sie ihre Botschaft also, indem sie reden. Wenn sie sich einmal gesanglich äußern, wie etwa der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel (seine Wahl war auf das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“ gefallen, sicher wegen der gelben Farbe; Scheel war auch mal Vorsitzender der FDP) oder Andrea Nales mit dem Pippi-Langstrumpf-Titellied, sind wir befremdet oder gar peinlich berührt, vor allem dann, wenn die Töne wie bei letzterer nicht ganz der korrekten Frequenz entsprechen.
Das war nicht immer so. Im alten Griechenland, der Wiege unserer Zivilisation, war es nicht ungewöhnlich, dass Gesandte ihre Botschaft singend und gar tanzend überbrachten, wie der griechische Althistoriker Angelos Chaniotis in seinem Aufsatz „Als die Diplomaten noch tanzten und sangen“ in der Zeitschrift Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Bd. 24, darlegt. Zuständig für Tanz und Gesang waren keine Geringeren als die Musen, und sie waren es, die die entsprechenden Fähigkeiten beherrschten und vermittelten. Körper- und Stimmbewegung kamen sozusagen von der höchsten Instanz.
Noch im 17. Jahrhundert empfand man es offenbar nicht verwunderlich, wenn ein Ludwig XIV. von Frankreich 1653, kaum vierzehn Jahe alt, als aufgehende Sonne verkleidet, sein Publikum im „Ballet Royal de la Nuit“ erfreute, was ihm der Legende nach das Epitheton „Roi-Soleil (“Sonnenkönig“) eintrug: die Arme zierlich abgespreizt, Haupt und Schultern von Strahlen umgeben, ebenfalls strahlend der Gürtel, die Schuhschnallen und Strumpfbänder, wie ihn eine zeitgenössische Darstellung präsentiert. (Das Libretto stammt übrigens von Isaac de Benserade.)
Im aktuellen Wahlkampf erwarten wir von den Kandidaten also Vergleichbares. Annalena Baerbock als (sagen wir) Diana, Armin Laschet als munterer Merkur, Olaf Scholz als … Ich bitte um Vorschläge!

Das wärs für heute.
Susanne Lücke

Die Burg lässt schön grüßen.

Kultursendungen haben ihren eigenen sprachlichen Charakter und sind deshalb, abgesehen von der Thematik, leicht zu erkennen. Da lässt die Natur ihre Muskeln spielen, da wartet ein Steak ungeduldig darauf, scharf angebraten zu werden, stolze acht Eier gehören in einen Teig, Buchteln nehmen in einer Form Platz, Burgen grüßen, je nach Standort des Betrachters, herunter oder herüber. Ob sie winken und guten Tag oder grüß Gott sagen, ist vermutlich von Burg zu Burg verschieden.

Für die, die solche Texte zu Gehör bringen, stellen sich andere Herausforderungen, die geeignet sind, deren Kompetenz, je nach dem, zu untermauern oder in Frage zu stellen. Dass ein professioneller Sprecher eine geschulte, möglichst wohlklingende Stimme hat, sei vorausgesetzt. Aber es ist nicht von Nachteil, wenn er obendrein über eine gute Allgemeinbildung verfügt. Nun gehört z.B. Latein nicht gerade zur Allgemeinbildung, schließlich ist es nicht in jeder Schule Pflichtfach. Es macht sich allerdings recht gut, wenn ein Sprecher sich vorher entsprechend informiert. Es dient jedenfalls seiner Glaubwürdigkeit, wenn er salutant nicht auf der letzten, sondern auf der zweiten Silbe betont, und ein bestimmter römischer Kaiser heißt nun mal nicht Septimius Séverus, sondern Septimius Sevérus. Auch empfiehlt es sich, sich einmal zu vergewissern, ob es wirklich in corporo sano (statt in corpore sano) heißt. Es ist heute ein Leichtes, sich kundig zu machen, wenn man keine entspechende Vorbildung besitzt. Freilich machen es uns einige Sprachen nicht leicht, etwa das Russische. Ephraim Kishon gestand einmal, er habe mehrmals einen Anlauf genommen, ein Werk der russischen Weltliteratur zu lesen, und es schließlich aufgegeben, weil er sich die vielen komplizierten Namen nicht merken konnte. Es könnte Dr. Schiwago gewesen sein, Pasternaks Roman von über 700 Seiten, dessen komplexe Erzählung von Hunderten von Protagonisten getragen wird.
Dagegen erscheint das Tschechische einfach, wenigstens wenn es um die Betonung geht, denn alle Wörter werden grundsätzlich auf der ersten Silbe betont. Der tschechische Ministerpräsident heißt deshalb eben nicht (gesprochen) Babíesch, sondern Bábisch (geschrieben Babiš).
Ob es sich bei dem italienischen Bildhauer Gian Lorenzi Bernini um einen bloßen Versprecher im Vorgriff auf das End-I in Bernini handelt oder schon so im Manuskript steht, sei dahingestellt. Man ist geneigt, letzteres auszuschließen. Dem Autor dürfte der berühmte Barockbildhauer Gian Lorenzo Bernini ein Begriff gewesen sein.

Das wär’s für heute.
Susanne Luecke

Im Zeichen christlicher Nächstenliebe

Jahrhunderte lang konnten katholische Geistliche in einem quasi rechtsfreien Raum ihre Verbrechen an Minderjährigen begehen, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Einzelne Fälle, die vor Gericht landeten, wurden eben als Einzelfälle abgetan. Erst nach der Publikation eigener Erfahrungen eines ehemaligen Zöglings des Berliner Canisius-Kollegs wurden lawinenartig mehr und mehr einschlägige Fälle bekannt und sorgten für viel Im Zeichen christlicher Nächstenliebe weiterlesen