Meine Patentante, wie meine Familie wohnhaft in Aussig (UstÍ nad Labem in der tschechischen Republik) war mit Karl Löwy liiert, einem Juden, der allerdings kein sog. „Glaubensjude“ war, sondern eher ein Jude „durch Zufall“, wie sich einmal ein Jude, dessen Name mir leider entfallen ist, selber bezeichnete. Anfang Juni 1939, also kurz nach dem Anschluss des Sudetenlands an das „Reich“, hatten noch etwa 30 000 Juden an ihrem angestammten Ort gelebt, kurz darauf nur noch 2 373 . Die meisten waren Hals über Kopf ins Innertschechische geflohen, wo sie eine Flut von Antisemitismus auslösten.
Karl Löwy, den ich Onkel Karl nannte, weil er de facto Teil meiner „arischen“ Familie war, war Leiter der Bezirksstelle X der Kultusvereinigung, einer nachgeordneten Verwaltungsstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Mag sein, dass er sich in dieser Stellung sicher genug fühlte, um nicht zu emigrieren, mag auch sein, dass er die Ergebnisse der Wannseekonferenz nicht zur Kenntnis genommen hat, fest steht jedenfalls, dass er nach dem Anschluss des Sudetenlands an das „Reich“ plötzlich verschwunden war.
Doch eines Tages bekam meine Großmutter Nachricht von ihm. Er schlug ihr ein Treffen im Stadtpark vor, und sie ging darauf ein. Da sie sich in der Öffentlichkeit nicht in Gesellschaft eines Juden zeigen durfte, gingen sie hinter einander her, nur so weit von einander entfernt, dass sie sich noch verstehen konnten. Was ihr Onkel Karl gesagt hat, habe ich nie erfahren.
Wie ist es möglich, dass etwa 80 Jahre nach dem Ende des „Dritten Reichs“ Juden sich wieder in Deutschland unsicher fühlen? Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher politischen Ecke der Wind weht.