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Venedig, acqua alta

Die Luft ist heiß und wie fast immer feucht in dieser auf Wasser gebauten Stadt, das Haar hängt nass in die Stirn, der Schweiß läuft in der Rinne des Rückgrats hinunter, bis ihm der Hosenbund Halt gebietet und ihn aufsaugt. Ein lebhafter Wind, nicht kühl sondern warm, kommt von der Lagune herüber. Dem Wasser bleibt keine Zeit, sich für grau oder türkis zu entscheiden. Die leeren, an den Holzpfosten vertäuten Gondeln im glänzenden Leichenwagenschwarz vollführen einen Tanz wie nach der Choreographie eines gestörten Kleinhirns.

Die Wellen schwappen über, lecken mit gierigen Zungen das graue Pflaster. Ich bleibe stehen, sprungbereit, und bin gespannt, wann mich eine erwischt. Ein Versuch auszuweichen – zu spät!

„Arriva lo scirocco“, sagt ein Gondoliere sachlich, ohne Beunruhigung. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet.

Diese Einmischung der Natur in die Angelegenheiten der Stadt! Das Hochwasser sucht die Venezianer drei- bis vier-, fünfmal im Jahr heim. Leben die Menschen mit dem Hochwasser, seit die ersten Siedler hier vor den Hunnen und Westgoten Schutz suchten?

Noch heute sind die Spuren unverkennbar, die die Kaiserlich Königliche Monarchie der Habsburger hinterlassen hat, trotz aller Feindseligkeit und des Widerstands der Bevölkerung damals, im 19. Jahrhundert. Immerhin ist es dasselbe Gebirge, das beide Reiche begrenzte, voneinander schied und schließlich für mehr als ein halbes Jahrhundert vereinte – nur einmal vom Norden, einmal vom Süden gesehen.

Gibt es eigentlich noch Venezianer? Es gibt sie noch, obwohl die meisten schon fortgezogen sind, dorthin, wo es weniger Wasser und mehr Arbeit gibt. Viele der prachtvollen Palazzi am Canal Grande sind verfallen, Schuttberge türmen sich hinter Fassaden mit scheibenlosen Fensteröffnungen, manche wurden in Hotels umfunktioniert oder sind in Fremdenhand. Die extravagante Peggy Guggenheim hat ihre berühmte Sammlung moderner Kunst in einem unfertigen Bau des achtzehnten Jahrhunderts untergebracht. Dort im schattigen Garten liegen, so verkündet eine steinerne Tafel mit gemeißelter Inschrift, ihre „darlings“ begraben. Das ist irritierend zu lesen, bis man realisiert: Es waren nicht ihre Liebhaber, sondern ihre Hunde.

Heute eine überraschende Nachricht in der Zeitung: Venedig wird nicht sterben. Nachdem wir jahrzehntelang schon an seinem Nachruf gearbeitet haben! Schuld am sicheren Verfall der Stadt seien vor allem die Motorboote, die das Wasser der Kanäle in ständiger heftiger Bewegung hielten und so die Mauern aushöhlten, hieß es immer.

Es bedeutete eine Klitterung, käme man nicht auf die Heerscharen von Pauschalreisenden zu sprechen, die Venedig vom Frühjahr bis in den Spätherbst hinein heimsuchen und zur Unkenntlichkeit entstellen. Sie füllen den Markusplatz und ergießen sich in die umliegenden Lokale (jedenfalls die wohlhabenderen unter ihnen). Die meisten tragen ihre Zweiliter-Wasserflasche wie ein modisches Accessoir mit sich. Es gibt inzwischen sogar Wasserflaschenhalter, die geschultert werden können. Die Wasserflasche mit Zubehör als Reiseutensil, wie ein Fotoapparat oder ein Fernglas. Sie schlecken an einem Eis, ohne Anzeichen eines Genusses, kauen an einem Tramezzino oder einer konfektionierten Pasta. Sie sitzen erschöpft auf den Holzstegen, die in Erwartung des Hochwassers den Platz überbrücken, scheinen nichts wahrzunehmen als die Schwüle des Septembertages, die sie lähmt, und die Schwärme von Tauben, die sie entzücken. Sehen sie die Kuppeln von San Marco, den Campanile von San Giorgio Maggiore drüben auf der Insel, die Arkaden der Piazza mit den mehrfach gerafften schweren Vorhängen, die den Platz um so mehr zu einem Innenraum machen?

Sie ahnen nicht, dass nur ein paar Meter weiter in der Piazza S. Zaccaria Stille herrscht, die leise Melancholie verlassener Schulhöfe; Reflexe von Sonnenlicht.

Am nächsten Morgen weckt mich Sirenengeheul. Siebenmal, zähle ich, setzt es von neuem an. Im übrigen dringt kein Laut von draußen, wie es eine Stadt an sich hat, in der keine Autos, keine Motorini, nur Gondeln fahren. Dennoch, irgendetwas ist heute anders. Ahnungsvoll schaue ich aus dem Fenster: Der elegant gekleidete Herr in reiferen Jahren, die Lederschuhe in der einen Hand, die Aktentasche aus hellbraunem Leder in der anderen, den Regenschirm über den angewinkelten Arm gehängt, hat etwas Unwirkliches, wie er mit hochgekrempelten Hosenbeinen und der größten Selbstverständlichkeit gemessen durch das wadenhohe Wasser watet.

Wenn Flut und Scirocco, der warme Südwind, zusammenfallen, drückt es das Meerwasser stadtwärts. Es sickert, zuerst kaum merklich, von unten durch die Fugen des Pflasters auf der Piazza San Marco, fängt an zu sprudeln, wenn der Druck stärker wird, und springt schließlich in kleinen munteren Fontänen in die Höhe, wohin man schaut. Gleichzeitig drängt das Wasser vom Ufer auf die Piazza, vereint sich mit den vom Boden aufschießenden Wasserspielen, steigt weiter, bis die Fontänen, dem stetig steigenden Wasserspiegel nicht mehr gewachsen, zu niedrigen, sanft sich wölbenden Hügelchen verkümmert sind, und bald sind Piazzetta und Piazza zu riesigen Becken geworden, gefüllt mit homogenem Nass, bald knie-, schließlich hüfthoch.

Mit ein paar Handgriffen sind die immer bereitstehenden Holzstege aufgebaut, die jetzt den Platz durchqueren und überbrücken. Die formlosen Schwaden von Menschen, die zuvor über der Piazza hingen, sind auf einmal kanalisiert, ohne eigene Entscheidung in die eine oder die entgegengesetzte Richtung fließend, und wie von einer geheimen Regie gelenkt fügen sie sich alle dieser seltsamen, einfallslosen Choreographie.

Gleichgewichtssinn ist gefordert, wenn dann noch Regen einsetzt und die aufgespannten Schirme sich hier und da ein Duell liefern und ihre Träger sich unversehens in Seiltänzer verwandeln. Ich ziehe es vor, die Hosenbeine aufzukrempeln und durch das überraschend warme Wasser zu waten. Ich bin nicht die einzige. Alle bewegen sich langsam, wie in Zeitlupe gefilmt. Ein Traumbild? Szene aus einem surrealistischen Film?

Ich arbeite mich durch bis zum Museo Correr, das mir jetzt erscheint wie der rettende Hafen.

Diesmal lasse ich mir Zeit für Canova: den Orpheus, der verzweifelt die Hand vor die Stirn schlägt, als er durch seine Neugier endgültig die Geliebte verspielt hat, nachdem er gerade durch sein Spiel den finsteren Herrn der Unterwelt hatte dazu bewegen können, Eurydike herauszugeben; der Abschied ist endgültig. Räumlich von ihm getrennt, bleibt sie hinter Orpheus zurück, die Dünste der Unterwelt umhüllen sie, und die Hand des Hades streckt sich besitzergreifend nach ihr aus. Zeit auch für den greisen Dädalus, der dem halbwüchsigen Ikarus die Flügel anlegt, was der Sohn über die Schulter weg in einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz verfolgt.

Ein Blick aus dem Fenster: Noch immer regnet es. Im Obergeschoss eine Sonderausstellung. Nichts, was einen an diesem dunkelgrauen Regentag erheitern könnte. Wielange hält man es aus bei Francis Bacon, während das Wasser in der Piazza steigt und steigt und die runden weißen Kaffeehaustische auf dem Wasser driften wie die Riesenblätter mutierter Teichrosen?

Es geht gegen sechs, die Glocken von San Marco läuten zur Abendmesse. Ich folge der Einladung, auch das ist Zeitvertreib. Über Holzstege turne ich bis zum Hauptportal. Drinnen die gleiche mangelnde Stabilität – das Wogen auf der Piazza setzt sich hier im kostbaren Mosaikboden fort, und auch der riesige orientalische Teppich vermag es nicht zu glätten. Schwer, aber geschmeidig folgt er der Hügellandschaft des Fußbodens, dessen Farben wieder aufgreifend. Das Gold der Wände und Gewölbe lässt viel Architektonisches im Unklaren; Brücken, wie sie sich draußen über den Kanälen wölben, verbinden hier Außen- und Innenwände, überbrücken Raum hoch oben in Gewölbenähe.

Ist das Sockelgeschoss wirklich aus Stein, oder gehört das Geangeant zwischen Grau, Rosa und Ocker zu einem Moireestoff ? Frauen sitzen auf unsicheren Stühlen mit schief liegenden Sitzflächen. Die Bewegung ihrer schwarzgrundigen, mit bunten Blumen bemalten Fächer sind wie das Flügelschlagen überdimensionaler Schmetterlinge.

Welche Bedeutung mag der hagere Mann im Sraßenanzug haben, der, beladen mit einem hohen Stapel Pappkartons mitten in der Messe mitten durch den Altarraum eilt und hinter dem Altar verschwindet, unbeachtet vom Priester, der jetzt laut die Präfation liest?

Während der Messe muss es aufgehört haben zu regnen. Mildes Abendlicht liegt auf den Kuppeln von San Marco, die sich behutsam, wie herabschwebende Fallschirme auf das Gebäude senken. Nicht mehr lange, und das Wasser wird mit einsetzender Ebbe sinken. Morgen früh werden die Geschäftsleute den Steinboden wischen, die marmornen Verkaufstische trocknen, die Messingsockel blankputzen. Alles ist längst Routine. Vier-, fünf-, sechsmal im Jahr kommt das Hochwasser.

Schon die Kinder haben hier Rheuma, und das komme von der ewigen Nässe, sagt in singender venetischer Intonation Roberto, der drüben auf dem Lido wohnt und bei klarer Sicht von seiner Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses die Alpen sehen kann.

Am späteren Abend stehe ich auf der Piazza: Nur hier und da noch ein paar Pfützen, die Holzstege liegen mit eingeklappten Stahlrohrbeinen gestapelt am Rand. Der Himmel ist farblos hell und bildet den Grund für schwarze flügelflappende Fledermäuse. Die Tagestouristen sind weg, die Stadt atmet auf. Ich flaniere trockenen Fußes über die Piazza und balanciere schließlich auf jener imaginären Linie, wo sich die Klänge von „alla turca“ (Caffè Quadri) und des Donauwellenwalzers (Caffè Florian) mischen.

(aus Susanne Lücke, Immer geradeaus. Verwirrt in Italien? Tb Miller E-Books 2013, ISBN 978 3 95600 969 3).

Venedig hat die Nase voll

und das schon seit vielen Jahren, nur dass es bislang keine Möglichkeit gefunden hat, den Strom der Tagestouristen einzuschränken. Ein Problem, das es mit vielen Orten des Weltkulturerbes teilt. Die Stadt am Canal Grande trifft es allerdings besonders hart, so sehr, dass die Unesco bereits gedroht hat, ihr den Titel „Weltkulturerbe“ wieder zu entziehen.

Im Schnitt suchen täglich 70 000 (andere Quellen nennen 100 000) Tagestouristen die Stadt heim und machen den knapp 60 000 Einwohnern im historischen Zentrum das Leben schwer. Allein Kreuzfahrtschiffe mit einigen tausend Reisenden entladen täglich ihre Fracht, die sich dann durch die engen Straßen und Gassen wälzt. Längst haben viele, die die schöne Kulisse mit echtem Leben gefüllt hatten, die Stadt verlassen, längst hat das bodenständige Handwerk aufgegeben; es gibt keine Schuhmacher, Schreiner, Polsterer mehr, die berühmte venezianische Spitzenkunst ist von ostasiatischer Billigware verdrängt worden. Eine in Venedig ansässige Agentin klagte in einem Interview von ZEITonline (18. Juli 2018): Die Qualität in den Geschäften hat generell nachgelassen, … es [ist] schwierig geworden, seitdem chinesische Billigware den Markt überspült. Sie glauben gar nicht, was da alles als Muranoglas verkauft wird!“

Das Dilemma Venedigs: zu viele Bewohner leben hier vom Massentourismus. Doch der Widerstand vieler Venezianer wächst und zeitigt Wirkung. Geplant ist z.B. schon seit Jahren – abseits der historischen Altstadt – ein eigener Hafen für die Ungetüme von Kreuzfahrtschiffen, die obendrein die Luft verpesten und die Fundamente der Gebäude schädigen. Jüngst hat das italienische Umweltschutz-Ministerium die Pläne für ein neues Terminal für Kreuzfahrtschiffe genehmigt, doch es gibt heftigen Widerstand gegen das Projekt.

Durchgangssperren an Tagen mit besonderem Touristenansturm hält Bürgermeister Luigi Brugnaro für hilfreich, sind aber kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nun sollen die Eintagsfliegen unter den Besuchern (Hotelgäste bleiben verschont) zur Kasse gebeten werden: 3 Euro pro Person, 6 Euro im Jahr 2020 und vielleicht sogar 10 Euro in Zukunft bei besonders großem Ansturm (Quelle: dpa). Ob das viel ändern wird? Wer zwischen rund 600 (7 Nächte Mittelmeer) und 2.249 Euro (12 Nächte Mittelmeer) gezahlt hat, wird diesen läppischen Betrag auch noch aufbringen. Zumindest aber seien diese Einnahmen, so Bürgermeister Brugnaro, ein willkommener Beitrag zu den Kosten der Beseitigung von Gebäudeschäden und Müll, den die Touristen hinterlassen – Gäste übrigens, denen mittels aufgestellter Tafeln ein Minimum an Anstand, will sagen gutem Benehmen nahezubringen ist.

Zur Erinnerung daran, wie es einmal vor gar nicht allzu langer Zeit war: im nächsten Blogbeitrag ein „Porträt“ der Stadt in einer Ausnahmesituation, die mehrmals im Jahr eintritt und somit Normalität bedeutet.

Das wär’s für heute.

Susanne Luecke